Nach dem grandiosen Erlebnis der Teilnahme an der Etape du Tour im Jahr 2017 habe ich mit der Bekanntgabe der Strecke für 2019 im Oktober 2018 mit einem erneuten Start geliebäugelt. Dierk war relativ schnell überzeugt, auch wenn er sich die Strecke nicht so tiefgründig angeschaut hat. Nadine war eigentlich nicht sonderlich motiviert, hat dann auf mein weiteres Nachfragen aber zugesagt - allerdings auch ohne sich die Strecke ganz genau anzuschauen. Start war in Albertville geplant, nur 4,5 Autostunden von Freiburg entfernt. Als Übernachtungsmöglichkeit bot sich der Zeltplatz am Lac d‘Annecy an, an dem wir bereits einen traumhaften Urlaub verbracht hatten. Dierk wollte den Ausflug in die Savoyen nutzen, mit seiner Familie mit Beginn seiner Elternzeit ein paar weitere Tage zur Erholung zu verbringen. Ein wunderbarer Plan. Fehlte nur noch die Anmeldung zu dem Rennen. Es sollte doch kein Problem sein, einen der 15.000 Startplätze zu ergattern, was vor 2 Jahren noch ein paar Tage nach der Anmeldeöffnung einfach geklappt hatte.
Am Abend der Anmeldeöffnung habe ich zunächst Nadine angemeldet und von Dierk kam parallel ein glückliches „geschafft“. Blöderweise hatte sich irgendwo auf der Welt bereits der 15.000ste Teilnehmer ebenfalls bereits eingetragen, so dass für mich kein Platz und die Anmeldung geschlossen war. Nachmeldungen oder Ummeldungen sind nicht möglich. Große Enttäuschung für mich als Initiator. Die anderen beiden hätten auch gern mit mir getauscht. Aber die Gegend rund um Albertville bietet noch genug Rennradstrecke zum Austoben, so dass ich mir bald eine persönliche Route ausgesucht hatte und wir uns motiviert auf die Reise machen konnten.
Die Vorbereitungen in Deutschland liefen nicht optimal. Durch unsere zweimonatige Auszeit im Winter haben Nadine und ich lang gebraucht, um in die Saison zu kommen und auch die Lust hielt sich in Grenzen. Zudem ließ das Frühjahr nicht wirklich viele Kilometer zu. Nun gut, die Strecke war ja „nur“ 135 km lang und enthielt auf dem Papier nur zwei richtige Berge, die sich in der Summe allerdings zu 4.600 Höhenmetern sammelten (was Dierk und Nadine nicht so ganz im Blick hatten). Der Schlussanstieg nach Val Thorens wurde mit 35 km, aber nicht wirklich steil angegeben. Ähnliche Gegenwindfahrten hat jeder von uns schon einmal absolviert. Es sollte also alles gut gehen und schon nicht so schlimm sein.
Beim Abholen der Startunterlagen am Vortag in Albertville war die Enttäuschung doch wieder groß, nicht dazuzugehören und dabei sein zu können. So habe ich mich dann am folgenden morgen, als ich die beiden zum Start gegen 7 Uhr gefahren habe, gleich auf meine eigene Runde verabschiedet, um der prächtigen Stimmung rund um das Rennen aus dem Weg zu gehen. Zudem waren in den Tälern Temperaturen um die 35° C angesagt und morgens die Luft noch frisch und angehm kühl. Während Nadine und Dierk in ihren Startblöcken Aufstellung genommen hatten, war ich bereits auf dem Weg zum Col de la Madeleine, Jan Ullrichs Lieblingsberg. Knapp 20 km Anstieg und 1.550 Höhenmeter am Stück. Glücklicherweise hatte ich die quaeldich.de-Seite über den Anstieg studiert und mich für die dort empfohlene verkehrsarme Alternativstrecke über die D76 entschieden. Auf den ersten 15 km des Anstieges haben mich gerade einmal 3 Autos und ein Motorrad überholt, bevor es für die letzten 4,5 km auf die Hauptstrecke ging und die Zahl der überholenden motorisierten Fahrzeuge in die Höhe schnellte, aber im gut erträglichen Rahmen blieb. Die 1:44 h bedeuteten überraschenderweise meine erste Bestzeit für einen quaeldich.de-Anstieg für die selten gefahrene Südauffahrt Südauffahrt von La Chambre über Montgellafrey. Oben konnte ich die Trinkflaschen beim Passrestaurant auffüllen, die Aussicht genießen und mich in die 27,5 km (!) lange Abfahrt stürzen. Danach konnte ich meine Gedanken Nadine und Dierk zuwenden, die ich auf meiner weiteren Runde in Moutiers (jeweils km 100 auf unseren beiden Touren) noch treffen und anfeuern wollte.
Beide erlebten anders als bei den Rennen in Deutschland einen entspannten Start in Albertville. Sogar die Olympiaflamme von 1992 brannte noch einmal. Allerdings nahm Nadine die Stimmung beim Start und auf der Strecke nicht so gelassen und freudig wahr wie vor 2 Jahren. Diesmal waren schon alle etwas angespannter und es gab kaum kurze Gespräche. So nahm sie dies in die Hand und hat zumindest immer die (sehr wenigen) Deutschen angesprochen und mit den Frauen kommuniziert. Laut Nadine gestaltete es sich dann so: Die ersten 21 km nach Beaufort gingen bereits leicht bergauf, bevor der eigentliche Anstieg zum Cormet de Roselend (Bergwertung 1. Kategorie, 19,9 km, 6 %, 1.203 HM) begann. Dieser Berg ließ sich aufgrund seiner verhältnismäßig moderaten Steigung gut fahren, kostete aber aufgrund der Länge schon eine Menge Körner. Gemütsaufhellend war der schöne Blick auf den Stausee Lac de Roselend ca. 7 km unterhalb des Gipfels. Oben angekommen hieß es, sich gut zu verpflegen bevor es in die 20 km lange Abfahrt nach Bourg-Saint-Maurice ging. Inzwischen war es bereits so warm geworden, dass selbst in dieser Höhe eine Windweste für die Abfahrt nicht mehr erforderlich war. Von hier aus hätten die Teilnehmer gemütlich durch das Tal der L‘Isère weiter bergab nach Moutiers rollen können, wo der Schlussanstieg nach Val Thorens beginnt. Doch die Streckenplaner hatten auf der südlichen Bergflanke des Tals mit der Côte de Longfoy eine Gemeinheit eingebaut, die im Gesamtetappenprofil eher wie ein Legwarmer aussah, sich aber als akkurater Berg herausstellte (Bergwertung 2. Kategorie, 6,7 km, 6,8 %, 457 HM). Unsere nördlich des Mains beheimateten Teamkollegen wären heilfroh über eine solche Trainingsmöglichkeit. Die aufgrund der vielen Kehren technisch nicht einfache Abfahrt haben Nadine und Dierk in dem sehr diszipliniert fahrenden Teilnehmerfeld gut gemeistert. An der Strecke standen allerdings überall Fahrer mit Reifenpannen und der Geruch von Bremsgummi und das Scheibenbremsenquietschen war allgegenwärtig. Nun ging es endgültig hinab nach Moutiers, wo nach einer Verpflegungsstation bei km 100 der finale Anstieg nach Val Thorens begann und ich zum Anfeuern erwartet wurde.
Nachdem ich auf den letzten Kilometern der langen Abfahrt vom Col de la Madelaine das Gefühl hatte, mir pustet dauerhaft jemand heiße Fönluft in das Gesicht, war nun auch ich auf den letzten 10 km nach Moutiers zu meinem km 100, um die beiden anzufeuern. Auf dieser kurzen Strecke habe ich bei inzwischen 35° C an jedem Dorfbrunnen halt gemacht, meine Trinkflaschen aufgefüllt und mein Bandana nass gemacht. In Moutiers habe ich mich noch einigermaßen gut gefühlt und die Stadt war ohnehin voll mit Zuschauern. Da ich eh schon einmal in den Alpen war, habe ich mich entschlossen, die beiden weiter oben in ihrem 35 km langen Anstieg anzufeuern, auch weil ich mir sicher war, dass dort mein Zuspruch erheblich nötiger sein würde. Da der Schlussanstieg des Rennens die ersten 12,1 km und 774 Höhenmeter über die enge, aber schöne Nebenstrecke der D96 führte, konnte ich dazu parallel auf der breiten Hauptstraße D117 über 17,5 km und entsprechend viele Höhenmeter bis Les Frênes fahren, wo beide Strecken aufeinander treffen. Dieser Anstieg lag blöderweise in der Sonne, so dass ich richtig gar gekocht wurde. Zudem ließen die Kräfte nach und die Kilometer krochen nur so dahin. Bei km 7 mit noch über 10 km Anstieg dachte ich ans Umdrehen und an ein gemütliches Anfeuern unten in Moutiers. Doch wie sollte ich den beiden später erklären, ich hätte nach 7 km am Berg aufgegeben und beide im Rennen mit noch mehr Höhenmetern in den Beinen 28 km weiterfahren müssen. Also habe ich erstmals seit 15 Jahren wieder mitten in einer Steigung eine Pause gemacht, mich im Schatten verpflegt, zusammengerissen und die letzten 10 km bis zum Zusammenschluss der beiden Strecken hoch gefahren. Glücklich war ich über den unvermittelt auftauchenden Friedhof eines Bergdorfes, an dem ich meine Trinkflaschen erneut auffüllen und mich erfrischen konnte.
Nadine und Dierk hatten sich in Moutiers verpflegt, wobei das Angebot irgendwie nicht soo umwerfend war. Vielleicht lag es aber auch einfach am Grad der Erschöpfung, dass Oliven, Käsebrot und Honigkuchen nicht ging...die Pellkartoffeln aber waren super. Nadines Überzeugung, oben in Val Thorens (Bergwertung HC, 33,5 km, 5,5 %, 1.840 HM – Schlussanstieg mit den meisten durchgehenden Höhenmetern in der Geschichte der Tour de France) anzukommen, war gering - ein ständiger Kampf, Meter für Meter. Glücklicherweise gab es immer wieder Schatten. Das Endziel hat sie erst einmal ausgeblendet. Die Verpflegungsstation nach 17,5 km war erst einmal das Hauptziel. Stupides Treten und das langsame Herunterzählen der Kilometer und Verarbeiten der noch übrig bleibenden Strecke waren auch für den Kopf sehr anstrengend. Auf den kurzen Flachstücken unterwegs konnten die Beine wenigstens kurzzeitig gelockert werden und die Kilometer verstrichen endlich etwas schneller. Dank unserer auffälligen Teamkleidung konnten mich die beiden am Streckenrand auch sehr gut ausmachen. Ob der Zuspruch für die letzten 20 km oder der Neid auf meine Möglichkeit der direkten Abfahrt bei unserem Zusammentreffen überwogen, konnte ich in dem Moment nicht ausmachen. Angesichts meiner eigenen Leidensfahrt hatten die beiden meinen allerhöchsten Respekt! Also weiter strampeln und sich positive Gedanken machen, dass in der Höhe nicht nur die Luft dünner wird, sondern auch die Temperatur angenehm abfällt. Überall an der Strecke, wo ein wenig Schatten war, standen Fahrer und versuchten sich kurz zu erholen. Nadine hat auch mit sich gekämpft, aber sie wusste, wenn sie einmal anhält, dann wird es immer schwerer dann wieder loszukommen...also Durchhalten und Kopfbeschäftigung finden. Motivierend ist es bei solche einer Veranstaltung eine Frau zu sein...alle feuern die Frauen besonders an...‘Allez la fille‘.
Nadine erreichte die Verpflegungsstation...nochmal versuchen etwas zu essen, auch wenn fast nichts reinging. Und Pipimachen… das Trinken war wohl ausreichend. Die Motivation für den Rest bestand aus der Vorstellung: nur noch 1,5 mal den Schauinsland und es gibt da auch noch ein Bergabstück!! Irgendwann war endlich Val Thorens erreicht. Leider führte die Strecke noch durch den gesamten Skiort und um in der Rangliste der höchsten Bergankünfte der Tour de France ein wenig nach oben zu klettern, haben die Streckenplaner das Ziel der bisher einzigen Ankunft von 1994 noch ein paar Höhenmeter nach oben auf eine Skipiste mit einer im zweistelligen Prozentbereich liegenden Rampe eingebaut. Also die letzten 500 m kamen Nadine vor wie im Film...das muss doch wirklich nicht sein!! Nach einer Gesamtfahrzeit von rund 8 Stunden, davon allein knapp über 3 Stunden (!) nur für den letzten Anstieg sind beide kaputt, aber erleichtert ins Ziel gekommen. Beide befanden sich am Ende noch innerhalb der ersten Hälfte der Teilnehmer, die das Rennen überhaupt beendet haben. Eine Riesenleistung. Essens-mäßig war es oben leider auch nicht kulinarisch, so genossen die beiden wenigstens noch ein wenig Stimmung, Aussicht und angenehme Temperaturen. Dann ging es in die Abfahrt, die für viele km auf der Auffahrtstrecke gleich war. Glücklicherweise konnte man aber meistens trotzdem recht flüssig fahren...die Bergauffahrenden hatten ja nicht so das hohe Tempo drauf...sie taten ihnen echt leid, sie wussten ja wie lange es sich zieht und die Temperaturen waren jetzt nochmal höher.
Ich war derweil nach meiner Abfahrt die 30 km von Moutiers nach Albertville gefahren, um das Auto zu holen und die beiden in Moutiers abzuholen. Diese Fahrt durch das Tal der Isère war ekelig, heiß und Gegenwind. Das wäre den beiden nicht mehr zumutbar gewesen. Just als ich am Auto in Albertville ankam, erreichte mich Nadines Anruf über die glückliche Ankunft der beiden im Ziel. Im Hintergrund waren die Freudenschreie der im Ziel ankommenden weiteren Teilnehmer zu hören. Nachdem ich in Moutiers noch eine Weile auf die beiden warten musste, konnte ich dann aber am Ende in zwei lachende und stolze, aber auch fertige Gesichter blicken - „pain is temporary, glory is forever“. Nach einem kurzen Bad im Lac d‘Annecy ging es für Nadine und mich noch am Abend zurück nach Freiburg während Dierk sich noch eine Woche vor Ort mit seiner Familie von den Strapazen in der tollen Gegend erholen konnte.
Am folgenden Samstag haben wir vor dem Fernseher gespannt auf den Showdown die Profis beim Kampf um die Gesamtwertung auf der identischen Strecke gewartet. Da sich die Strecke für die Jedermänner als zu schwer herausgestellt hatte, wurde diese auf 60 km verkürzt und ausschließlich der Schlussanstieg nach Val Thorens von den Profis absolviert.
Mein Fazit: Wieder ein großartiges Erlebnis und Event. Für die Preregistration mit Informationen zur Teilnahme 2020 bin ich bereits eingetragen…
Bei Nadine & Dierk überwiegt noch die Erinnerung an die Anstrengung, vielleicht sind sie dann beim nächsten mal einfach "entspannt" an der Strecke...
Dierk 7:58:18 h, Platz 3.970 (ges. 10.134), AK Platz 573 (ges. 1.443)
Cormet de Roselend: 1:31:51 h, Platz 4.202 (ges. 10.046)
Côte de Longefroy: 0:35:47 h, Platz 5.089 (ges. 10.049)
Montée de Val Thorens: 3:08:47 h, Platz 4.046 (ges. 10.084)
Challenge du Meilleur Grimpuer: 5:16:23 h, Platz 4.029 (ges. 10.091)
Nadine 8:07:29 h, Platz 4.323 (ges. 10.134), AK Platz 25 (ges. 87)
Cormet de Roselend: 1:32:13 h, Platz 4.310 (ges. 10.046)
Côte de Longefroy: 0:36:09 h, Platz 5.291 (ges. 10.049)
Montée de Val Thorens: 3:16:36 h, Platz 4.692 (ges. 10.084)
Challenge du Meilleur Grimpuer: 5:24:57h, Platz 4.029 (ges. 10.091)
Mein persönlicher Hohler Buckel an diesem Tag: An der Passüberfahrt am Col de la Madelaine (damit die Passhöhe "eindrucksvoll" ist, wurden zu den eigentlichen 1.993 m NN sieben Höhenmeter dazu addiert)